Kapitel 3
Löwenerwachen
Tag 1 – Morgengrauen
Ehe ich an den Anfang aller Ereignisse komme, bitte ich euch, günstiger Leser, meine gelegentliche Wildheit zu verzeihen. Es ist nicht immer leicht, das ungestüme Wesen unseres Geschlechts zu bezähmen, trotzdem darf es keine Ausrede für derlei Flegelei sein. Vergebt mir meine stürmische Art, und wenn ihr es fertigbringt, wollen wir die anfängliche Erregtheit ganz vergessen, wollen neu beginnen, auf dass nichts mehr zwischen uns ist, das einen Groll hervorbringt.
Ich bin Hatibu, eine Weibliche vom Geschlecht der Leoparden. Der Name Hatibu hat in unserer Sprache vielerlei Bedeutung; die trefflichste ist die des Wächters oder Beobachters. Und wie es der Name gemahnt, sehe ich seit sieben Wintern auf die Graslande herab. In all der Zeit war ich die Geliebte dreier Kater, und ich sah viele Geliebte und deren Gemahle, ich erzog vier Junge zur Selbständigkeit, und ich sah viele Mütter ihre Kinder aufziehen, ebenso viele Jungen sah ich an der Natur zu Grunde gehen, wie auch ich zwei Söhne an das raue Gemüt der Natur verlor. Fürwahr, nichts entkommt meinem Blick aus dem Geäst, und so entgingen mir auch nicht jene Begebenheiten, die dem entführten Kater Phleck das Leben heute so beschwerlich machen.
Das ist also die Geschichte von der Sonne und dem Wind.
Funkelauge
Als Erzähler wird mir ein wortgetreuer Vortrag zur ersten Pflicht. Als berufener Redner wird es mir zum guten Recht, der gezähmten Nüchternheit zum Trotze, den Tathergang in ungebändigten Bildern darzutun. Dem Lauschenden, im besten Falle träumend und ganz dem Worte hörig, soll eines zur Gewissheit werden: Er selbst sei Teil des Geschehens gewesen. Und so will ich euch nun einführen in die Szenerie.
Das heißt, ich wollte es schon tun, doch sagt mir, hochgeschätzter Leser, wie beschreibt man Dunkelheit? Am Anfang aller Verhängnisse – man gestatte mir das unheilvolle Klischee gleich zu Beginn der Erzählung – war es finsterste Nacht, und selbst jene, die nicht dem Schlummer verfielen, sahen kaum mehr als der geschichtenlauschende Träumer mit den geschlossenen Augen. Nicht einmal die eigene Pfote vor dem Aug ließ sich erkennen, und versuchte man es trotzdem, verschwand hinter vorgehaltener Hand der krallenförmige Mond, der zwar nicht viel, doch immerhin genug vom Leuchten sagen konnte, sein blasses Dasein zu erweisen. Wem das matte Bild nächtlicher Vergangenheit zu wenig Eingebung ist, der behilft sich mit dem Anblick tagheller Gegenwart; die besagten Ereignisse sind gerade einmal acht Tage alt – gestern wie heute herrschte Trockenzeit in den Graslanden, mit Nächten voll des halben Viertelmondes.
Aber zurück zur Dunkelheit – es war nicht gänzlich finster. In der Schwärze ließ sich ein Augenlicht entdecken, und wer nur halb so halbherzig hinsah, erkannte gleich zwei davon. Ganz ohne blinzelnde Gegenwehr, vom Mondenlicht entfacht, blitzten sie auf und verrieten im hochmütig leuchtenden Wesen die Katzenartigkeit ihres Herren, der tatsächlich eine Dame war. Nein, nein es war keine Dame im hehren Sinne, bloß eine Dame in Anbetracht ihrer Weiblichkeit.
Mehr als das funkelnde Auge war zunächst nicht herauszufinden – nicht der Rest des Katzentieres, nicht der Strauch, der jener Funkeläugigen zur Verborgenheit verhalf und nicht das belauerte Treiben jenseits des Gestrüpps. Ich will euch nicht lang im Dunkeln tappen lassen: Das Tier hinter dem Strauch war Tawny. Da saß also jenes Mistvieh vom Geschlecht der Geparden, die bei Phlecks Entführung in aller Munde war, jene Katze mit den zwei Namen, die Kungwi gern in seinen Klauen hätte, weil Fisi einen Anspruch auf ihren Leib erhob. Ebendiese Gepardin lauerte hinter einem Gesträuch, und ihre reglosen Augen behielten etwas im Blick, blinzelten kaum, hielten es mit gleicher Beharrlichkeit wie die dauernden Rufe der Zikaden.
Zikaden? Ja, Zikaden hörte man in dieser Nacht, Zikaden so weit das Hören reichte, und Zikaden viel, viel weiter. Zikaden waren überall. Wie in jeder Nacht. Kein Wind verwehte die einfarbigen Laute, nur zuweilen durchstrich ein Hauch das von Trockenheit raschelnde Gras. Mal überstimmte ein Brüllen das Zirpen, mal verriet ein flatterndes Geräusch den aufsteigenden Vogel, ein anderes Mal rief ein Zebra von Ferne zum anderen herüber, dann übernahm das zirpende Durcheinander wieder. Sonst regte sich nichts.
Bis eben.
»Verschwinde!«, zischte Funkelauge unvermittelt. Eher fauchend denn sprechend, überwältigte der jähe Ruf die Grillenstille, und eine Pfote trachtete nach dem ausgemachten Störenfried. »Weg da! Weg da!«
Dem Störenfried, ein Schmetterling von durch und durch purpurner Erscheinung, mochte der in fauchendem Akzent gehauchte Widerwille nichts bedeuten. Er trotzte dem Schütteln und Rütteln Tawnys, ließ sich gar auf ihrem Kopf nieder und war durch keine Regung zu vertreiben. Fuhr eine Pfote über das besetzte Ohr, tat der Schmetterling einen Luftsprung zum anderen Lauscher, bis ihn die zweite Pfote zurück auf das Erste bat. Wild wirbelten die Augen des geschüttelten Hauptes, hielten kurz inne und wirbelten erneut umher. Sie glichen, wie von Sinnen, dem umtriebig sinnlichen Treiben leidenschaftlicher Leuchtkäfer.
Wer kann schon sagen, was im flatterhaften Köpfchen frech flatternder Insekten vorgeht? Mir war, als wollte dieses hier die Gepardin von ihrem besessenen Vorhaben abbringen. Aber ist diesen kleinen Biestern ein solches Maß an Überlegtheit zuzutrauen? Nein, vermutlich machte sich der Schmetterling bloß einen Spaß daraus, aufreizend zahnreiches Getier zu necken. Was es auch war, das den Schmetterling toll werden ließ, sein schwirrendes Wirken blieb nicht ohne Wirkung, wie weiteres Kopfschütteln an der Gepardin verriet.
»Verschwinde endlich!«, zürnte die Raubkatze verdrossener als zuvor. Katzes Krallen bürsteten das juckende Ohr, ein Grollen kam den Krallen zu Hilfe, und nach dem Knistern im Gestrüppe kam eine geschwungene Pfote dazu, rasch eilte die zweite Pfote herbei, und beide zerschnitten nun fuchtelnd die Luft. Von wechselnden Seiten kamen die Tatzen daher, angefeuert von lauernden Augen und hellhörigen Ohren – tatbereite Pfoten verlangten einen genauen Bericht, in welche Richtung der Unmut der Kallen zu lenken war. Ohne Erfolg. Im Düsteren ließ sich selbst von einer Funkeläugigen nicht genug vom Insekt ausmachen, drum trug die Katze den Schmetterling mit Fassung und richtete den glühenden Blick auf das einstige Ziel hinter’m Gesträuch.
Löwenerwachen
Erstmals drangen Laute aus jener Richtung, die Funkelauge – bedenk ich es recht – mit halbnächtlicher Beharrlichkeit ausspähte. Es war kaum mehr als das dauernde Flüstern des Grases, das von meinem Baume nicht zu vernehmen, und zwischen den Graslauten war da ein Leuchten zu sehen, nur kurz, ehe es von einem Schmatzen verschluckt ward.
»Endlich!«, knurrte Tawny.
Das kurze Wort, leise aufgesagt, war bedeutsam wie ein Befehl – vergessen waren juckende Horcher. Erst eine angespannte Haltung angenommen, spähte die Gepardin gleich danach ins Dunkel jenseits des Strauches, Ohren lauschten, und sogar der Leib der Katze drängte zum Strauche hin, als gab selbst die geringe Annäherung mehr Aufschluss über das Jenseits. Der Schwanz prasselte von einer Seite zur anderen, strich Gras zu Boden, richtete es im nächsten Streich auf, von sitzender Bequemlichkeit keine Spur, nun da sich die erhitzte Späherin nicht mehr zu entscheiden vermochte, ob sie lieber saß oder dastand. Nicht anders erging’s dem vormals starren Blick der Katze – voller Ungeduld ging er hinauf zu den Sternen, sich sehnend nach dem fahlen Licht des Morgens.
»Hoch mit euch! Worauf wartet ihr Faulpelze?«, schimpfte sie.
Als bedurfte es des Schimpfes durch eine Sonnenläuferin, hielt plötzlich Lebendigkeit Einzug in die müde Folie, als hinterm Gesträuch ein neues Funkeln aufschien, nur zwei Schritte entfernt vom ersten Schimmer. Besah man den neuen Schimmer in seiner ganzen Breite, erkannte man darin einen feuchten Glanz eines vom Mond beschienenen Irgendwas, länglicher Gestalt. Seltsam glatt. Und etwas anderes war seltsam: Der Schimmer kam stets in einer Vierzahl vor – zwei Große über zwei Kleineren. Zähne! Es waren Zähne in gähnenden Mäulern schläfriger Löwen, und in Anbetracht der Schimmer an drei weiteren Erdenflecken, war das meiste vom Schlafen getan.
Das Rudel erwachte.
Erstmals regte sich ein Schwanzquast, und schließlich der Rest von Tieres Ende, dieses kam auf dem Hinterteil eines Anliegers zum Liegen, und jener Leu tat es in gleicher Weise. Im Widerspiel kehrte sich der müde Jäger auf die Seite, legte riesige Pfoten auf dem Nächstgelegenen ab, bis sich der Belegte, jäh erweckt, von hinnen wandte, dabei das Maul zum Gähnen aufriss, seinerseits den Schwanz verlegte und die großen Pfoten einem anderen Löwen zum Geschenk machte. In kürzester Zeit vollzog ein jedes Löwentier das Erwachensritual, das selbst den Jüngsten geläufiges Brauchtum war. Ab und an drang ein Brüllen aus gähnender Kehle, ermuntert vom Grollen einer Gepardin im Schatten des Dickichts.
Wie an jeden Morgen fanden zuerst die Löwenkinder – zwei volle Monde erlebten sie schon – einen Weg, sich über die Behaglichkeit des Liegens zu erheben, um erst den neuen Morgen, später die Mutter zu grüßen. Dazu presste sich ein Junges mit einem beherzten Schubsen des stupserprobten Hauptes an den Schopf der Mama. Würde dieser Gruß nicht umgehend erwidert, folgte darauf eine weitere, nicht minder entschiedene Kopfnussnachricht – eine letzte Mahnung, ehe der nächste Gruß aus vollem Lauf entrichtet würde.
Jetzt ward es ernst für Mama Löwe – dem ersten Jungen folgten zwei andere Königskinder; sie waren gleichen mütterlichen Ursprungs und zeigten sich in Dingen entschlossenen Köpfchengebens ähnlich wohlerzogen. Eines war gewiss: Fand die Löwenmutter nicht unverzüglich auf die Läufe, sich der eingeforderten Artigkeit zu ergeben, begann ihr junger Tag mit Kopfweh.
Hatibus Besserwissen #1: Gepflogenheiten
Und damit heiße ich euch willkommen zur ersten Ausgabe von »Hatibus Besserwissen«, dem Periodikum für besseres Wissen wider vermeintlich besseres Wissen, zur Verurteilung von Vorurteilen, zur Klärung des Unerklärlichen, zur Aussprache des Unaussprechlichen.
Hielte man es mit den Gepflogenheiten der Katzen – ich meine nicht die Löwenart allein –, folgte auf das geschnurrte Grußwort ein strenges Zeremoniell, bei dem pausenlos Köpfe und Nasen und Mäuler aneinandergepresst werden. Dazu streichen sie unablässig mit allen ausgestellten Körperteilen am anderen entlang, bis die Hälfte des eigenen Duftes auf den Kontaktempfänger überging oder einer der Beteiligten einen Brummschädel hat, je nach dem, was erstens eintritt. Sie werden eins, eine olfaktorische Einheit, wenn man so will.
Was schon bei paarweise auftretenden Katzentieren zur Geduldsprobe erwächst, artet bei Löwen gänzlich aus; so gehen ganze halbe Tage ins Land, bis sich auch das letzte Rudeltier dem anderen füglich verpflichtet fühlte und ein jeder der Zuneigung des anderen versichert ward.
Ein Außenstehender würde allein ob des Erscheinungsbildes von Familienbande sagen, und bestellte es der Anblick einmal nicht, genügte wohl das gesprochene Grußwort für die Erlangung von Unzweifelhaftigkeit. Zugegeben, ein nacktes Wort reichte für’s bloße Erkennen aus, aber wir Katzen geben uns nur selten mit dem Ausreichenden zufrieden. Wozu Verzicht üben? Hält man den körperlichen Empfang des Katzengeschlechts dagegen, erscheint dieser innig im Vergleich zum nüchternen Grußwort, entgegnet Vertrauen, erwidert Zuneigung, schwört allzeitigen Beistand. Es ist kein schlichter Gruß, es ist ein öffentliches Bekenntnis: Du bist mir nahe, du bist ein Teil von mir.
Aufstehen
Alle Löwen waren wach, ebenso viele wussten um die Aufgaben des Tages, und nicht weniger lagen still darnieder, vom Aufstehen nicht eine Spur. Sah man das gegenseitige Belauern, musste man denken, ihnen sei das frühe Erwachen nicht geheuer, und es verlöre seinen Schrecken erst, wenn sich ein Todesmutiger unter ihnen – besser wären zwei, gesetzt den Falle, der eine irrte und lebte unvermutet fort – aus dem Grase hob und die Unbedenklichkeit des allmorgendlichen Wagnisses bezeugte. Demzufolge geschah nichts, und bis dahin deuchte’s Liegen vergnüglicher als Stehen.
Ein dumpfes Grollen aus Bauch heraus war dem Einzigen mit Mähne genug Ermutigung. Sein beherzter Schwung warf ihn, den größten der Neun, auf die Bauchseite, er setzte die riesigen Pranken auf, das Ächzen folgte, in dessen Begleitung sich der Löwenleib aus dem Gras erhob. Allzu weit kam der Mähnige in seiner verträumten Entschlossenheit nicht; sobald er in den Stand fand, suchten sich Krallen Halt, die Löwenbrust senkte sich bis hinein in die Gräser, während sich das Löwenende zur selben Zeit gen Himmelsfeste reckte. Sagt, wer traute dem ungelenken Klotz eine solch leidenschaftliche Darbietung zu? Trotz der alltäglichen Gebärde war da kein Zeichen von Gewohnheit, dafür sah man eine vollkommene Biegung, die ihre Fortsetzung im quastbesetzten Schwanz des Katers fand. So will ich vom Strecken sagen!
Wie sich das dunkelmähnige Oberhaupt reckend und streckend gab, schwand alle Trägheit aus den anderen Löwen. Eine jede Löwin verbog sich nach ihren Launen: Die eine tat es liegend und schnurgerade, zweifach groß, eine andere vollbrachte es rollend bei normaler Löwenlänge, zwei Schwestern standen im Wettstreit mit dem Mähnenlöwen, und eine Graue reckte sich im Gehen.
Der Mähnige schüttelte die Mähne, stapfte gähnend zwischen seinen Gattinnen hindurch. Er schenkte den umstehenden Weibern den Löwengruß, verteilte zottelig sachte Kopfstöße, die bei aller Zärtlichkeit dumpf zu Ohren kamen, und ließ er Kind und Kegel hinter sich, die Schlafstatt zu verlassen. Verlassen meinte, einige Schritte aus der Mitte der Katzenbande herauszutreten und verschlafene Blicke an die Welt zu richten. Beim stillen Umherblicken blieb es nicht; der hiesige Mähnenlöwe hob ein weitverbreitetes Gebrülle an, um jedem mit Ohren in Erinnerung zu rufen, wer dieses Land bewohnte und wer es nicht kampflos preisgab – nicht das Anwesen und nicht die Löwinnen, die auf seinem Anwesen hausten. Das musste gesagt werden, jeden Morgen auf‘s Neue.
Nachdem die Besitzansprüche kundgetan, führten Katers Schritte an die Seite der vorausgegangenen Löwin. Diese trug ihr Fell grauer, als es sandfarbene Löwinnen gemeinhin taten, und sie war nicht mehr einfarbig, schien gestreift. Rötlich schimmerten die Stellen, an denen das Fell nicht mehr wuchs, stattdessen entsetzliche Narben die Haut bedeckten. Jede Einzelne sagte von einem Kampf, und alle zusammen erzählten vom dornenreichen Löwenleben.
»Es ist so weit!«, sagte der Mähnige zur Grauen.
Das Ohr der alten Löwin, zerfurcht wie alles an ihr, wandte sich zum Löwenmanne hin; ihr Blick blieb stur auf den Anfang der Welt gerichtet, von wo aus die Sonne ihren Aufstieg begann. »Schon jetzt?«, sagte die Löwin.
»Es ist schon spät. Wir sollten uns beeilen.«
»Übereilte Jagden fallen selten gut aus.«
»Aber die Kleinen sind sicher hungrig und-«
»Die Kleinsten heißen dich eilen?«, sagte die Löwin mit einem Schmunzeln, ohne den Blick von der Morgendämmerung zu nehmen. »Bis eben schien es mir, als erinnerten sich ihre Bäuche noch lebhaft an das letzte Mahl, und mehr als ausgelassenes Spiel entbehrten sie nicht.«
»Trotz und allem mache ich mir Sorgen.«
Männchens Worte waren liebevoll, ganz ergeben, und waren doch niemals weniger als ein Grollen. Erstaunlich, so gefühlvoll sein Wort gedacht, es blieb ein Brüllen selbst im Flüsterton – das Gebrüll eines Löwen eben. Die alte Löwin vernahm’s und nickte nur, sagte sonst nichts mehr. Sie wollte sehen, ob ihr jener mit Mähne weitere Bedenken antrug und sogar die Kleinsten als Vorwand nahm, anstatt der Aufrichtigkeit die Ehre zu geben und das Wort zu überlassen.
Und der Männliche tat ihr den Gefallen: »Die Jungen sollen nicht warten, bis ihnen der nächste Hunger auflauert. Welch ein Vater wäre ich, würde ich zusehen, wie sie Hunger leiden?«
»Ach, Geliebter, wie viel der rührenden Sorge gilt wohl dem Kindeswohl und wie viel dem Wohl des eigenen Bauches?« Sie blickte zum Löwen, und da traf das falsche Entsetzen des einen auf das richtige Schmunzeln der anderen.
»Jede Sorge gilt den Kleinsten!«, erwiderte der Überführte. Er, der längst mit dem fliehenden Ernst im Antlitz kämpfte, wollte aber nicht aufstecken. »Versuche, mich zu verstehen: Lieber einmal zu viel-«
»O, ich verstehe es zu gut: Lieber ein Mahl zu viel als ein Mahl zu wenig«, erwiderte die Löwin mit einem herzhaften Lachen, das bei aller Freude darin, tief im Klang, etwas Beängstigendes barg. Ehe der Moment zu ausgelassen ward, besann sie sich der Besonnenheit. »Doch sieh, es ist nicht die rechte Zeit!«
»Aber die Sonne schläft nicht mehr lang. Bald entdeckt sie jede Deckung, die vorher im Dunkeln lag. Dann werden uns selbst die Nachtblinden auf einen Lauf Entfernung auswittern.«
»Willst du mich darüber belehren, wie das Jagen zu machen ist?« Ernst blickte die Löwin auf den überragenden Löwen, das Lachen wich aus ihrem Antlitz. »Wir können nicht aufbrechen! Es ist zu früh für eine Hatz, sage ich!«
Wie das Lächeln wich nun auch das Männchen von der Alten. Der Mähnenlöwe erwartete kein solch harsches Widerwort aus grauer Löwin Maul; wohl ahnte er, dass sein Weib etwas von ihm einforderte. Was es sein mochte, blieb dem Manne verborgen, und so beließ er es beim Schweigen – sagte er nichts, so der Gedanke, konnte nichts Falsches darunter sein.
Und die Löwin? Die verlor die wenige Geduld. »Kiongozi, Mtwalas Sohn!«, brüllte sie, stieß dabei den sichtbaren Atem in die morgendliche Frische.
Der Gescholtene, Kiongozi hieß er also, stand noch immer still, verstand nicht viel und wagte keinen Laut aus dem sonst so vorlauten Maule. Auch die umstehenden Rudeltiere ließen vom Reden; alle Blicke galten den beiden Katzen: Da stand eine ungehaltene Löwin, deren einzige Regung das Wippen der Schwanzspitze war und ein nicht minder starrer Löwe, dessen gedankenvolle Lippen einige Worte erprobten, von denen keines je zur Sprache kam.
Allzu lang mochte sich die Erzürnte nicht an ihrer Empörung aufhalten, da schenkte sie ihrem Löwen ein sanftes Lächeln, wie es nicht an dieser Löwin zu vermuten, nachdem sie so vorzüglich zürnte. »Kiongozi sag, wie lange möchtest du mich hinhalten? Sind dir die Blutjungen des Rudels näher als das ergraute Weib? Wohl verstünd ich’s, obgleich es mir zu großem Kummer taugte.«
Erst jetzt, als goldene Augen begehrend glänzten, ward Kiongozi das Versäumnis inne – zur rechten Zeit, will ich sagen, denn hätte er sich seinen Gedanken nur einen Augenblick länger hingegeben, wäre‘s Licht der Dämmerung seiner Erleuchtung zuvorgekommen.
Da verneigte sich der große Löwe leicht und sagte: »Nicht eine ist mir kostbarer als die andere. Ihr seid mir alle lieb und teuer.« Sprach’s und nahte sich, das Mähnenhaupt in Demut gesenkt, dem verschmähten Weib. Er drückte seine Wange an den Hals der alten Katze, streifte Kinn und Kehle dann und folgte hinauf zum Maul. »Verzeihe meine Gedankenlosigkeit, Mvyele.«
Schnurrend erwiderte Mvyele die zu lang vorenthaltenen Zärtlichkeiten eines plumpen Katers und sprach danach so sanft, als war der Groll niemals gewesen: »Nun ist die Zeit für eine Jagd.«
Die Übrigen eilten herbei, die Zärtlichkeiten nachzuholen.