Kapitel 2
Die Erzählerin
Tag 8 – Später am Morgen
Nanu, ihr seid noch hier. Warum folgt ihr den vier Hyänen nicht? Stattdessen seht ihr verdächtig und schelmisch nach mir. Sagt, werter Leser, möchtet ihr denn nicht erfahren, was aus Phleck in der Gewalt der Wilden werden soll? Rasch geht den fünfen nach, solang die unverblasste Fährte eine Verfolgung leichtmacht! Werdet sehen, was mit Phleck geschehen soll, und womöglich erfahrt ihr auch, wer diese Tawny ist, von der Kungwi zornig sprach. Eilt euch!
Oder möchtet ihr viel lieber etwas anderes aus den Graslanden hören? Nun, dann lasst es mich für einen Moment durchdenken – ihr müsst wissen, unser Land erzählt sich sagenhaft viele Geschichten; gewiss ist da eine darunter, die eure Neugier erweckt. Da hätten wir Mysterien zuhauf – sagt, würdet ihr gern eingeweiht in das Geheimnis der gelben Phantomschlange? Nach dieser Erzählung findet mancher seinen Geisterglauben wieder. Oder wie ist’s mit Abenteuern? Wollt ihr vom wilden Nilkrokodilrennen hören? O, jedes Jungtier liebt diese Geschichte. Oder seid ihr solche, die dem besseren Weltverständnis nachjagen in alten Sagen und Mären? In diesem Falle müsst ihr die Legende der Großen Mutter hören, und wie sie das Katzengeschlecht gebar. Scheut euch nicht, sagt mir, was ihr erfahren möchtet!
Gar nichts? Nichts davon ist wissenswert?
Um es mit meinen Worten zu sagen: Die Schreie der Gewalt sind kaum verhallt, die niederträchtige Verschleppung des Geparden Phleck ist in vollem Gange, und euch ist sie keines Blickes wert, viel weniger der Rede. Und sind es nicht die Geschichten der Graslande und nicht unsere alten Legenden, weder die Hyänen dort noch der gequälte Kater, was fesselt eure Aufmerksamkeit an mich?
Heißt mich stur, und ich will‘s nicht leugnen, jedoch sind die Entführer von hier aus kaum auszumachen, man kann das Unterfangen gar unmöglich nennen, solange ihr mich statt ihrer im Auge behaltet. Ach, was rede ich von meiner Sturheit, da ihr dem Eigensinn, so scheint‘s, nicht ferner seid. Bis eben glaubte ich, ihr Leser wärt von ausgemachter Art, wärt voller Entdeckerfreude, und nun finde ich euch sprachlos vor wie all die anderen euresgleichen.
Stille Beobachter
Wen ich mit euresgleichen meine? Jeden Morgen zieht es euch her. Ihr galoppiert meist zu Mehreren auf keuchenden Mähren – die Rede ist von den seltsamen Tieren mit kreisrundem Huf und kalter Haut, ganz ohne Fell und ohne den Ruch des Lebens. Sobald euer Blick dem Baume galt, befiehlt ihr euren Tieren Halt, und gleich darauf ergibt sich Spähers Aug der Katzengestalt, hoch im Geäst. Gebannten Blickes harrt ihr dann, bleibt wie Fische stumm und mancher nicht minder schuppig. So verweilt ihr hockend auf den Kleppern, macht große Augen, bringt ganze Tage auf diese Weise zu. Ihr späht mich aus beim Schlafe, beim Fressen, manchmal ertappt ihr mich auf frischer Tat mit den Katern, und dann seht ihr mich wieder schlafen, berückt, beglückt, als saht ihr nie zuvor einen bewohnten Baum.
Gern will ich meine Verwirrung erklären. Ich spreche vom einzigen Baum in den Graslanden, der diesen Namen verdient und sich schon von Ferne als bewohnt vorstellt. Die Markierungen von Kralle und Geruch sagen es überdeutlich: »Das ist Hatibus Baum«. Meine Akazie! – so ist es auf hundert Schritt nachzulesen, und ist es der Wunsch des Windes, sind es hundert mehr. Bedachte man die Sache weiterhin, fände man bloß zwei Gründe, die den Weg in die Gazellengründe erforderlich machten: Der eine ist die Hoffnung auf spärlichen Schatten unter meinem Baum, der andere ist das Verlangen nach meiner Gesellschaft, wenngleich das eine selten ohne die andere zu haben ist. Also, was erwartete der Blick in Baumes Krone denn als meinesgleichen?
Gewiss, abseits des lüsternen Zuspruchs von gleicher Arten Katern sind nur wenige empfänglich für den rauen Charme des Raubtiers, und vermutlich fiele das Zeugnis des ersten Blicks entzückter aus, träfe er auf die in Niedlichkeit gehüllte Statur eines Erdmännchens. Aber dort oben, in Baumes Wipfel, liege nur ich. Ein anderes Tier vermag das Klettern nicht, mag deshalb auch das Klettern nicht, und die Leblosen von uns lägen nicht auf hohem Gezweige, sie lägen eher ungeordnet um den Stamm herum, also recht weit unten bei den anderen. Sagt selbst, ist die Erkenntnis einer springlebendigen Katze, die dort im Baume herniederblickt, gar zu überwältigend, um es mit Höflichkeit zu halten?
Statt des Grußes nicht ein Wort, und an Tages Ende wird man sagen, ich mache einen gereizten Eindruck. Denn was sollte eine Leopardin anderes sein als gereizt, nicht wahr? Ach, ich könnte es mir selbst ganz leichtmachen, indem ich euren Argwohn in gleicher Melodie erwiderte. Es dürfte euch nicht einmal verwundern, eingedenk der furchteinflößend scheppernden, der klappernden und dröhnenden, den stotternden und nimmermüden, zu Nachten grelläugigen Rösser, die ihr neuerdings in ganzen Herden auf den knirschenden Pfaden entlangscheucht. Denen zum Trotze heiße ich jeden willkommen, der nahe meinem Baume haltmacht.
Ach, ich liebe es, jedem Reisenden von der Gegend zu erzählen, über das Leben und seine Leute hier. Und eines müsst ihr mir glauben: Ich bin die beste Fremdenführerin zwischen den sonneerweckenden Bergen und dem Akazienhain, der sie am Ende des Tages in den Schlummer wiegt. Anders als das Bodengetier habe ich von droben eine überragende Sicht auf die Geschehnisse, die sich mir gefällig zu Pfoten werfen. So entgeht nichts meinem wachen Aug, selbst wenn es schlafend scheint, und alles Geschehen in der Ferne trägt der Wind ans Ohr. So wüsste ich von jedem Bewohner Dinge zu erzählen, die er bis eben für vertraulich hielt.
Nichts tät‘ ich lieber.
Und nicht anderes werde ich tun, so ihr mir keine Widerworte gebt!
Allein es bleibt die Frage, wie ich der sprachlos vorgetragenen Erwartung gerecht werde, ohne den kleinsten Hinweis, was eurem Ohr das Liebste wäre. Gern wollte ich euch von Phlecks Entführung erzählen, doch Gepard und Hyänen sind nicht auszumachen. Wie wäre’s also, wenn ich euch stattdessen erzählte, wie es zu ebendieser Entführung kam? Im selben Atem würde euch entdeckt, wer jene Tawny ist, die mancher auch Jua heißt und weshalb Fisi nach ihr trachtet.
Gut, dann wollen wir es so haben: Ihr schweigt manierlich vor euch hin; ich nehme alles Reden auf mich. Und wird mir im Verlaufe etwas zum Verbleib des armen Katers Phleck und seinen Entführern offenbar, will ich davon berichten.