Kapitel 10
Dräuende Gefahren
Tag 2 – In der Nachtmitte
Zur Erinnerung: Der Autor wies gleich zu Beginn der Erzählung auf verwegene Wendungen hin, und wer’s ihm dereinst nicht glauben wollte, muss nun seinen Glauben erneuern. Aber wer traut schon dem Geschwätz eines Schreiberlings, jene, die mehr Interesse an der Phantasie zeigen, denn an der wahren Begebenheit, hierneben solche Strolche, die mir in den vorderen Kapiteln das Wort verboten? Wahrlich, es ging Seltsames in der Savanne vor: Eine Gepardin etwa, die es mit einem ganzen Löwenrudel aufnahm; eine alte Löwin, die dem gefleckten Todfeind in einem Akt der Besonnenheit eine nie gesehene Nachsicht zeigte, von dem in tausend Katzenaltern nicht zu hören; Hund und Katz, die dem eiligen Urteil eines dauernden Zanks zuvorkamen, weil sie viel lieber einer Freundschaft nachgingen und dazwischen wunderlichen Handel trieben – einen Knochen für eine Sonnenblume, nämlich; eine Zibetkatze sah man auch, deren Leidenschaft es war, Sonnenläufer zu reiten, anstatt das Laufen selbst auf sich zu nehmen, und als sei alles das nicht von erlesener Wunderlichkeit, stürzten sich Tawny und Phleck um ein Haar in den Tod. Zu unserem Glücke kam es nicht so weit, andernfalls endete diese Erzählung schon früh.
Für Erleichterung war es indessen viel zu früh, denn zu dieser Zeit war das Überleben der Sonnenläufer höchst ungewiss. Ich ahne, wie euch dieser Einwand vorkommt: wie ein ungelenker Versuch, die leichte Komödie zur schweren Tragödie zu wandeln. Allein ich wünschte, es wäre so. Doch was euch eine Übertreibung der Erzählerin dünkt, ist nicht weniger als die Lehre des Lebens. Wie oft musste ich solches Leid von meinem Baume aus bedauern? Wie oft führten Stürze aus vollem Gepardenlauf zum verzüglichen Sterben hin?
Meist geschieht es unvermittelt und trotzdem immer gleich: Erst wird geweint und gehofft und gelitten, und bald bemerkt der unbeugsame Geist Besserung an sich. Furchen heilen, Risse bekommen neues Fell, Schmerzen verblassen. Glaubt der Verunglückte dann, das größte Elend sei überdauert, legt sich plötzlich der Ruch des Verderbens über das Tier – Risse, die eben heilten, werden größer, als sie es je waren, zerfressen selbst gesundes Fleisch; Blessuren an Pfoten und Lauf, nach dem ersten Schrecken längst vergessen, entdecken sich zu guter Letzt als geborstenes Bein.
Der Tod ist wie ein Leopard – er naht sich heimlich, ist zu Lebzeiten nicht mehr als eine Ahnung, die sich erst im Sterben ganz entdeckt. Und er holt selbst Geparde ein. Sie mögen ihm fürs erste Entlaufen, aber er wird sie fassen. Und wie viel schwieriger würde das Davonlaufen für solche, die an den Schwänzen aneinandergebunden?
Da war es das Beste, wenn Phleck und Tawny eine Nacht darüber schliefen.
Die Sonne färbte rot den Horizont und rief den Abend herbei – es war die Zeit der großen Schatten. Selbst kleinsten Geschöpfe gingen zu Riesen auf, und aus bunten Vögeln wurden dunkle Gestalten vor einer glühenden Scheibe zerflossenen Lichts. Schwere Läufe wurden leichter, das Spiel der Kinder geriet wilder, einstmals zähe Gedanken kamen flinker – Tieres Tatendrang lebte auf, als die Savanne die erdrückende Hitze abwarf. Löwengebrüll hallte über die Graslande, vermählte sich mit dem geschäftigen Kichern der Hyänen. Der Tag der großen Jäger brach an, und alle, die keinen Händel mit den Unbändigen suchten, hielten Ausschau nach einem Unterschlupf oder versammelten sich im Schutze der Nachtherde.
Tawny und Phleck fanden ihren Schutz auf der Mtazamo mzuri. Von der Anhöhe funkelten zwei Augen auf die Ebene herab. Mit einem Mal erhob sich ein zweiter Schopf, reich befleckt wie der erste Kopf – nun verfing sich die Sonne in den goldenen Lichtern beider Bewunderer. Die Augen des zweiten fielen wieder zu; die Augen der anderen begleiteten die Sonne in den Schlummer.
Wenig später tauschte der Mond den Platz mit dem Stern des Tages, lächelte fahl auf die Erde herab. Den Wassern gab er verträumten Glanz, den Gräsern und den Steinen verlieh er einen zarten Schimmer, wo sonst nur Dunkelheit zu finden. Und drunten bei den vier Felsen der Mtazamo mzuri öffneten sich die Augen eines furchtbar matten Tieres – Gepard Phleck. Gemeinsam mit den nimmermüden Augen des anderen Biests – Gepardin Tawny – nahmen sie das prächtige Gestirn in Empfang. Lunens Licht verfing sich in beider Augen; nicht mehr golden, gleißend hell trugen sie das grüne Feuer, wie es Funkelaugen bei Nachten so an sich haben. Die Augen des einen fielen nieder, die anderen begleiteten den Mond durch dunkle Tagzeit.
Aber nun wollen wir den Geparden Ruhe lassen und später nach ihnen sehen.
Da ist etwas im Busch
Die Nacht war in vollem Gange; eine Giraffe stolzierte durch das Gras. Sie lief einen gebührlichen Bogen um die Anhöhe – dreißig ihrer stelzenden Schritte waren es, die ein Langhals gern um gefleckte Raubtiere legt – und folgte dem ausgetretenen Pfad nach jener Richtung, in der die Sonne ihr letztes Licht auf die Welt legt. Die Wasserstelle war ihr Ziel.
Am Ufer des Ziwa ndogo stand die Giraffe dann, blickte herab auf ihr liebevoll gekräuseltes Ebenbild im Wasser und fand es einigermaßen seltsam, wollt’s fast beängstigend nennen. Für gewöhnlich war das Wasser zu aufgewühlt, um je sein Abbild darin zu erkennen, in dieser Nacht jedoch stand kein Huf im Schlamm, wo sich sonst niemals weniger als zwanzig Tiere um das Wasser drängten. Nicht einmal die Stehplätze im Schutze des Baumes waren besetzt. Es schien, als war die Giraffe allein am kleinen See.
Das baumhohe Tier stellte die vorderen Glieder voneinander weg; das war nötig, so sie den langen Hals herabbeugen, nicht aber aus dem Gleichgewicht geraten und auf den Boden purzeln wollte. Die Zunge stieß ins Wasser, platsch, nahm ein paar Tropfen ins Maul, platsch, und holte gleich Neues, platsch, platsch.
Knack!
Die Giraffe ließ vom Wasser und sah nach dem knackenden Geräusch, das verborgen hinter einem Strauch, den man bei Tage unweit des Ufers stehen sah und der bei Nacht bloß ein Schatten seiner selbst war. Will man genauer sein – zu genau? – war dieser eine Strauch drei kleinere Sträucher, die zu einem Ganzen zusammenwuchsen, trocken und dornig, in jedem Falle groß genug, selbst imposante Tiere dahinter als Dickicht zu verkleiden, dachte die Giraffe. Die Ungewissheit verlangte Vorsicht.
Und der Langhals behielt Recht – etwas war im Busch. Gemurmel drang hinter dem Strauch hervor, das tuschelnd begann und rasch zu einem ausgemachten Gerede ward, als dem Flüstern ein lautstarker Groll zukam, der das heimliche Wort ganz unheimlich machte. Eine tiefe Stimme drang durch die Dunkelheit, alt klang sie, müde und behäbig wie der Rest des Tieres, das im Leben keine Eile kannte. Jene Stimme war Teil eines Zwiegesprächs, das just an einen Punkt gelangte, da aus trägen Worten ein munterer Unmut ward.
»Sagt ihr mir auch, wozu?«, entgegnete besagtes Tier hinterm Busch. »Ich frage euch noch einmal: Wozu bedarf es eurer Hilfe?«
Und eine zweite Stimme hielt dagegen: »Lasst mich eure Frage mit einer Frage erwidern. Wie viele Tage trachtetet ihr dem Vieh nach dem Leben? Und wie oft entkam sie euch? Seid ihr der vergeblichen Mühen nicht überdrüssig? Wie oft wollt ihr euch selbst weismachen, das Vieh sei euch je zum Greifen nah gewesen?«
»Das waren schon vier Fragen und keine verrät mir etwas. Kommt zur Sache, Frau! Ihr beginnt, mich zu langweilen. Oder seid ihr gar gekommen, mich zu ermüden?« Selbst das Grollen der Ersten klang gemächlich.
»Drei ganze Sommer liegt ihr auf der Lauer und bliebt ohne Vergeltung, sofern man den entgegengebrachten Hohn von dem Biest nicht als Lohn erachten will. Statt Einsicht schenkt sie euch Unverfrorenheit. Nicht Genugtuung erfahrt ihr durch sie als weit‘re Verbitterung. Tag um Tag befleckt sie euren Stand, und dabei käme eurem alten Geschlechte mehr zu als ein endloser Streit mit dem nieder‘n Tier. Lasst euch in der Sache beraten; es will uns beiden dienen.«
»Ihr wisst also, was meinem Geschlechte zukommt?« Aus alter Kehle kam ein verachtendes Lachen. »Und was wisst ihr davon, was mir dieses Mistvieh entgegenbringt? Sagt, ist euer Leben so bedauernswert, dass ihr lieber meines erforscht? Ich wollt‘s schon rührend nennen, wie sehr ihr euch um mein Ergehen sorgt, wenn ich nicht um den verschlagenen Geist euresgleichen wüsste, der nur die Sorge um das eigene Heil kennt.
Seid versichert, Frau, ich brauche eure Hilfe nicht. Seid ihr so gründlich als es scheint, so wisst ihr um die Beharrlichkeit unserer Art. Von allen Jägern haben wir das längste Leben – wir verstehen uns auf das Warten. Das Mistvieh ergreifen – es wird geschehen, sobald die Zeit dafür gekommen ist. Und sollten drei weitere Sommer nötig sein, will ich die Jahre begrüßen, denn jeder neue Tag des Wartens wird mir diesen einen Tag umso süßer werden lassen, o dieser süße Tag, da ich das Vieh zwischen den Zähnen halte. Es wird mir zur größten Lust, jeden einzelnen Knochen bersten zu machen. Jedes Knacken wird mir einen Tag des Wartens vergelten.
Ihr seht, ich brauche keine Hilfe von euch und eurer heimtückischen Art! Geht, die ihr selbst nicht wisst, wie ihr es zustandebringen könnt! Erspart mir eure geheuchelte Liebe, gedacht, viel mehr von mir zu erbitten, als eure Behilflichkeit jemals einbrächte. Geht nun! Geht!«
Das gescholtene Tier bedachte die Worte der Alten lang. Vermutlich musste der aufwallende Zorn erst überwältigt werden, damit die Besonnenheit das Wort ergreifen könnte. »In einem habt ihr Recht: Mir allein wird es nicht gelingen. Aber seht nicht auf mich allein, seht auf uns alle. Viele von uns werden es vollbringen. Und wir verlangen nicht viel für die Mühen – nicht mehr als eine Gefälligkeit, die euch kaum der Rede wert sein wird.«
»Hört ihr sie denn nicht, meine Worte?«, sagte die Alte. »Nichts bekommt ihr und ich brauche niemandes Hilfe.«
»Und deshalb sprach ich nicht von Hilfe; ihr braucht niemandes Hilfe – das erkannte ich gleich. Aber auch die Mächtigen müssen sich’s Leben nicht misslicher machen, als es misslich sein muss. Selbst die Starken dürfen hin und wieder Lebens Bürden auf die Schultern des Freundes legen. Nehmt es nicht als Hilfe, nehmt es als Beistand eines Freundes. Wie es das Wesen einer Freundschaft ist, da will ich manche Last von euch nehmen, und findet ihr, dass eurem Freund dereinst eine Last genommen werden kann, würde es euch doch nicht als Warmherzigkeit ausgelegt oder gar als abgepresste Gefälligkeit für einen Dienst, den ihr ebenso trefflich selbst verrichtetet.«
»Nichts als Schmeicheleien. Spart euch die schönen Worte. Erspart sie mir! Glaubt ihr denn, ihr sprecht mit einer Närrin? Werft ihr ein paar verlockende Brocken vor das Maul und sie wird sie fressen – glaubt ihr das?«, sagte die Alte verärgert mit einem stetig wachsenden Ingrimm. »Geht hin! Berückt das dumme Volk. Jenseits der Verlorenen Lande werdet ihr sicher fündig. Geht rasch, ehe ich meinen Zähnen das sehnsüchtige Warten auf‘s Mahl mit eurem Fleisch verkürze.«
Es war alles gesagt. Ein Rascheln kündigte das Gehen jenes Tieres an, welches keine Hilfe haben mochte.
Ein letztes Wort kam vom ander‘n Tier gleich hinterher: »Narrheit. Einfalt. Hochmut – nennt‘s, wie ihr wollt. Starrsinn nennt man‘s bei uns. Ein wenig davon ist gewiss kein Schlechtes und etwas mehr ist manchmal besser, jedoch zu viel davon trübt das Urteil. Scheint’s, je älter das Tier, desto sturer ist sein Sinn.«
»Schließlich zeigt ihr euer wahres Gesicht. Seid gekommen, mich zu schmähen. Pfui. Freunde sollen wir sein? Zwei Freunde, die nicht mehr gemein haben als ihre eingeborene Weiblichkeit, und selbst das weiß man bei euch Kreaturen kaum zu sagen. Pah! Sprecht von Glück, dass ich keinen Zank mit euch suche. Und nun verschwindet! Geht zu eurer Sippe; die braucht jede helfende Hand und jedes bisschen Verstand.«
»Sieben Tage oder weniger«, dröhnte das zweite Tier. »Nicht länger dauerte euer Warten mehr, dann hieltet ihr das Vieh in eurem Maule, dürftet die Zähne in den verhassten Balg pressen. Brächtet ihr es nur ein einz’ges Mal fertig, die Eitelkeit beiseitezulassen, käme euch der abverlangte Gegenwert besonders klein vor. Stattdessen zieht ihr drei weitere Trockenzeiten der kleinen Gefälligkeit vor. Nun denn, wartet! Ergraut! Verfault! Lasst euch weiterhin verhöhnen! Und hauchte das Mistvieh in greisem Alter friedvoll den letzten Atem, mag euer Warten vergolten sein. Dann erinnert ihr euch an diesen Tag zurück und dürft mit einigem Stolze von euch sagen: Niemand rang euch je eine Gefälligkeit ab.«
Beide »Freunde« entschwanden auf verschiedenerlei Pfaden. Eine kleine Weile waren ihre Wege im zitternden Grase zu verfolgen, und bald trat die alte Stille ein, begleitet vom Trinken einer durstigen Giraffe.